24 Stunden in Indien

 

. . . .  die Luft war angereichert vom Duft nach  regengetränkter

Erde und Curry. Ich stand auf einer dreckigen Dorfstrasse,

nur wenige Meter entfernt von einem alten Ochsenkarren,

der als Imbisswagen zu dienen schien. Eine betagte Frau

mit zerfurchtem Gesicht und wissenden Augen bereitete frische

Speisen aus Reis, Gemüse, Fleisch und Gewürzen  zu. Mein Blick

schwenkte etwas nach rechts und entdeckte diesen Mann, im

strömenden Regen auf dem Nagelbett sitzend, der wie

abwesend durch mich hindurchsah. Ein paar Meter weiter, am

linken Straßenrand, hockte ein kleiner, in Lumpen gehüllter Junge mit einem noch kleineren Mädchen im Arm, das zitterte.

 

Der Kleine hatte eine zerknüllte Kappe vor sich im Dreck liegen, mit einigen wenigen, abgegriffenen Münzen darin. Das Mädchen lächelte mich an, etwas schüchtern, aber in ihren Augen lag diese erschreckende Abgeklärtheit.

 

Ich hielt es nicht aus und wollte mich abwenden, als mich eine starke Hand im Genick erfasste und eine klare Stimme hinter mir erklang : >> wie oft willst Du noch wegsehen ?<<

Mir wurde schwindelig; plötzlich verließ die alte Frau  ihren

Kochstand, der Mann erhob sich von seinem Nagelbett, der Junge und das kleine Mädchen standen ebenfalls auf und alle kamen langsam auf mich zu. Schließlich standen sie so nah bei mir, dass

ich ihren Atem auf der Haut spürte und die Gerüche ihrer Körper mich einhüllten. Es saugte mich wie ein Strudel zu Boden und alles überzog sich mit Nebel.

 

Als ich erwachte, lag neben mir auf dem Nachttisch dieser Pfändungsbescheid, der Abschiedsbrief von Julie mit der leeren Flasche Wein von gestern Abend darauf, mit der ich versucht hatte, meine Sorgen und mein Selbstmitleid zu ertränken. Ich blickte auf den Wecker ; 19. 42 Uhr zeigte er an.

 

24 Stunden lang hatte ich tief geschlafen !  Und dann war

da noch dieses Photo in meiner rechten Hand, mit dem Gesicht

eines kleinen, indischen Mädchens und darunter stand geschrieben :

 

>> Du wirst Indien nie mehr verlassen können !! <<

 

Ich musste lächeln und mir war klar, dass sich einiges, wenn nicht alles in meinem Leben ändern würde . . . . 

 

-

 

Der braune Hut 

 

 

 

Es war ein schummriges Licht im Raum, der angefüllt war vom

Duft einer ausgekühlten Pfeife. Die alte, reich verzierte Standuhr in der Ecke tickte erhaben über all den technischen Fortschritt der Neuzeit mit sonoren Geräuschen vor sich hin. Draußen säuselte ein eiskalter Wind durch die leergefegten Strassen.

 

Richard saß in seinem antiken Ohrensessel, etwas in sich zusammengesunken, und blickte hinaus auf die frühabendliche Winterstimmung. In seiner rechten Hand hielt er ein Röhrchen mit Tabletten und auf dem kleinen Beistelltisch aus Mahagoni, direkt neben der abgelegten Pfeife, stand ein Glas Wasser. 

 

Es war zwei Wochen vor Weihnachten. Für Richard ging ein dunkles Jahr zu Ende. Im Februar, auf einer unschuldigen Landstrasse, da  hatte er in Sekunden verloren, was sein Leben bis dahin wesentlich ausgemacht hatte. Eleonore, seine große Liebe, war noch am Unfallort verstorben. Sie war auf dem Weg zu ihm gewesen, hatte ihn überraschen wollen, zum Geburtstag. Der Schmerz des Verlustes war wie ein Geschwür gewesen, das sich mit trügerischer Langsamkeit aber vernichtender Beständigkeit über seine Seele ausbreitete.

 

Zuerst hatte Richard noch versucht, sich in seine Arbeit als Immobilienmakler zu stürzen, jedoch sehr schnell war ihm klar geworden, dass ihm daraus kein wirklicher Halt erwachsen würde.

Im April hatte er seinen ganzen Jahresurlaub genommen und versucht, sich mit einer Reise nach Kreta abzulenken, dorthin, wo er auch mit Eleonore schon mehrmals gereist war. Der kleine Fischerort war voll mit Erinnerungen und Bildern gewesen und ihr Duft hing noch in den Felsen, die ihre gemeinsame, romantische Lieblingsbucht umrahmten.

 

Nach seiner Rückkehr hatte er sich immer mehr vernachlässigt. Sogar seine Leidenschaft, das Fotografieren, war in der Trauer verendet.

Schließlich war sein Körper der Seele gefolgt und er war krank geworden.

Im August hatte ihm sein Arzt die Mitteilung gemacht, dass er mit einem baldigen Herzinfarkt zu rechnen habe und sich äußerst schonen müsse.

 

Daraufhin hatte Richard seinen Job aufgegeben und sich immer mehr

in sich zurückgezogen. Alle Verbindungen zu alten Freunden, den wenigen, die in dieser Krise geblieben waren, hatte er abgebrochen.

 

Dermaßen auf sich selbst, oder was davon übrig geblieben war, reduziert, hatte er den Herbst und den Winteranfang überwiegend zu Hause verbracht und nur noch gegrübelt. Ein dunkler, undurchdringlicher  Vorhang ummantelte sein Innerstes und nur selten war er hinaus gegangen, zum Friedhof. Eleonores Grab war der einzige Ort, an dem er weinen konnte, leise, still und unauffällig.

Nun saß er da, zerfressen von seiner Sehnsucht und seinem Schmerz.

Sein Lebensmut war gewichen und er war entschlossen, sich dieses Weihnachtsfest ohne sie zu ersparen, und alle auch folgenden.

 

Er blickte zum Schreibtisch hinüber, den er wie einen letzten Freund empfand. So viele Geheimnisse hatte er mit ihm geteilt. All die Briefe    an seine Geliebte waren dort entstanden und Hunderte von Fotos gemeinsamer Stunden hatte er dort sortiert. Sein Blick schweifte nach oben. Dort hing ihr Porträt, in

schwarz - weiß. Immer wenn er es ansah, hatte er das Gefühl sie würde ihm dieses für sie so typische sanfte Lächeln schenken, mit dem sie schon früher alle noch so hartnäckigen dunklen Gedanken in seinem Kopf mit Leichtigkeit vertrieben hatte.

 

Er musste sich zwingen, den Blick von ihr zu wenden;  verkrampft hielt er das Röhrchen mit den Tabletten fest. Mit der anderen Hand nahm er das Wasserglas vom Tisch und leerte mit einer einzigen entschlossenen Bewegung den gesamten Inhalt in das Gefäß. Mit einer seltsamen Art von Gleichgültigkeit betrachtete er die sich auflösenden, Erlösung bringenden Todesboten. Eine stoische Ruhe machte sich in ihm breit und da war keine Angst; ja, er sehnte sich förmlich nach dem Übergang und streckte im Geiste schon seine Hände aus, in der stillen Hoffnung, dass sie auf der anderen Seite Erwiderung und Halt finden würden. Mit einigen kräftigen Zügen leerte er das Glas. Er träumte sich in vergangene Zeiten hinein und mit großer Intensität überfielen ihn die Erinnerungen. Es hatte so etwas vom Lieblingsfilm, bei dessen Betrachtung man schon mit einer gewissen Vorfreude ungeduldig auf die nächste Szene wartet.

 

So verging eine fast unendliche Zeit in seinem Bewusstsein, immer begleitet vom beständigen Ticken der alten Standuhr. Er dämmerte schon dem endgültigen Schlaf entgegen, als plötzlich die Stille von einem entsetzlichen Geräusch durchschnitten wurde. Die  blockierenden Reifen eines Fahrzeuges ließen ihren schrillen Gesang durch die ruhige Wohnstrasse hallen; dann folgte ein dumpfer Schlag, der nichts Gutes verhieß.

Eine Autotür öffnete sich, ein paar Schritte waren zu hören, dann wieder eine kurze Stille und wieder Schritte, diesmal wesentlich eiliger. Ein Motor heulte auf und mit durchdrehenden Rädern entfernte sich der Wagen.

 

Richard hatte all das gehört, etwa so wie aus weiter Ferne und sein halb betäubtes Gehirn versuchte verzweifelt, die Eindrücke zu verarbeiten.

Ihm war als spreche eine innere Stimme zu ihm, versuche, ihn wach zu rütteln. Mit großer Anstrengung richtete er den Kopf auf und versuchte sich zu konzentrieren. Schwankend erhob er sich aus dem Sessel und wankte zum Fenster. Er öffnete es mit unendlicher Schwierigkeit und sah hinaus. Sein Blick war vernebelt, aber da lag etwas auf der Strasse, das aussah wie ein kleines Bündel. Ein leises Wimmern war zu hören.

Seine Knie wurden weich und seine Beine drohten einzuknicken, aber Richard wehrte sich mit aller Kraft; diese Stimme in ihm gab keine Ruhe.

„ Du musst noch etwas warten, Eleonore “, sprach er zu sich selber, „ ich werde noch einmal gebraucht “. Er schleppte sich in die Diele, streifte irgendeine Jacke über und erreichte nach einer scheinbaren Ewigkeit die Haustüre. Die frische Abendluft weckte seine  Lebensgeister und es gelang ihm, bis zu dem kleinen Etwas in der Mitte der Strasse vorzudringen. Richard bückte sich und sah ein kleines Mädchen, etwa sechs bis sieben Jahre alt, das sich auf dem Boden krümmte. Aus dem Mund des Kindes floss ein dünner Blutfaden und ein Bein war seltsam verrenkt. „ Kannst Du mich hören “, fragte Richard ängstlich. Da kam keine Antwort, da war nur dieses leise Wimmern. „ Hab keine Angst; ich werde Dir helfen. Es wird bestimmt alles wieder gut. “, sagte er unsicher und schob vorsichtig seine Arme unter den kleinen Körper. Seltsamerweise fühlte sich Richard jetzt hellwach und es gelang ihm, die Kleine aufzuheben.

 

Er wusste es gab ein Krankenhaus, nur zwei Häuserblocks von hier entfernt, und ohne die geringste Überlegung zu verschwenden, machte er sich zu Fuß auf den Weg. Das kleine Mädchen wurde von Schritt zu Schritt leichter und seine Bewegungen immer schneller. Richard hatte ein Gefühl, als würden seine Füße den Boden kaum noch berühren.

 

Schließlich bog er um die letzte Ecke und sah das Krankenhaus vor sich liegen. Als er nur noch einen Steinwurf weit vom Eingangsportal der Klinik entfernt war, versagten ihm die Beine plötzlich den Dienst und er brach zusammen.

Immerhin schaffte er es irgendwie, das Kind fest in seinen Armen zu halten, so daß es weich fiel. Richard versuchte, sich wieder aufzurichten, aber es wollte ihm nicht gelingen. Ganz unerwartet ertönte plötzlich eine sphärenhafte Musik und wie durch einen Schleier sah er drei seltsame Wesen auf sich zuschweben. Sie hatten das Aussehen von schönen Frauen, doch jede einzelne von ihnen war gänzlich unterschiedlich zu den beiden anderen. Eine war durchsichtig, wie aus Luft und mit Haaren wie ein Sturmwirbel. Eine andere war wie ein flüssiger Diamant beschaffen; sie schien nur aus Wasser zu bestehen und glitzerte türkisfarben. Die Dritte schließlich hatte die Farbe von Erde und Sand und ihre Augen glühten wie Sonnen. Es war das Wasserwesen, das plötzlich die Stimme erhob und zu Richard sprach: „ Sei gegrüßt, stelle keine Fragen und höre gut zu. Wir sind die drei Feen des Lebens und es ist unsere Aufgabe, gelegentlich einem Menschen zu Hilfe zu eilen, der es wert erscheint. Wir wissen um Deinen Kummer, aber es ist für Dich noch nicht so weit, Dich aus dem Leben zu verabschieden. Du wirst Dich wieder verlieben, eine Familie gründen und noch viele glückliche Jahre verbringen. Als Zeichen unserer Obhut schenke ich Dir diesen braunen Hut. Er soll Dich immer daran erinnern, dass wir da sind und wenn es Dir schlecht geht, setze ihn einfach auf; er wird Dich schützen. So, und jetzt steh auf, geh nach Hause und lebe Richard ! “ „ Aber das Mädchen....” stammelte Richard, „ sie ist verletzt und braucht dringend Hilfe... bitte “.  „ Hab keine Sorge, “ entgegnete nun das erdfarbene Wesen und das andere mit den Sturmwirbelhaaren fügte hinzu ; „ wir werden uns um die Kleine kümmern; es wird ihr wohl ergehen! “ Die drei Wesen ergriffen das  Kind und verschwanden mit ihm vor Richards Augen in einem sanften Nebel. Er selbst wurde bleischwer und verlor das Bewusstsein.

 

Es war wohl eine kleine Ewigkeit später, als Richard wieder zu sich kam. Da war es wieder, jenes vertraute Ticken der Standuhr, das ihn erwachen ließ.  Er saß zu Hause, in seinem alten Ohrensessel und in seiner rechten Hand hielt er ein Röhrchen mit Tabletten. Auf dem kleinen Beistelltisch aus Mahagoni, direkt neben der abgelegten Pfeife, stand ein Glas Wasser. „ Was ist geschehen ”, fragte er sich im Stillen und sah sich verwirrt um. „ Was tue ich hier ? Habe ich geträumt ? “ Er blickte hinüber zum Schreibtisch auf das Foto von Eleonore und es kam Ihm vor als sei ihr Lächeln viel intensiver als zuvor. „ Ich glaube, ich sollte etwas schlafen“, sprach er zu sich selber; „ich bin ja völlig durcheinander!”

 

Mühsam erhob er sich, stellte das Röhrchen auf den kleinen Tisch und verließ den Raum. Er ging ins Bad, erledigte seine übliche Abendtoilette und begab sich ins Schlafzimmer. Dort angekommen, legte er seine Kleider auf dem Stuhl neben dem wunderschönen Himmelbett ab. Dann kroch er unter das Oberbett und igelte sich gemütlich ein.

Sein Blick durchstreifte den Raum, fuhr über die geschmackvollen Tapeten aus roher Seide, die edlen Seitenschals an den Fenstern und fiel schließlich auf den kostbaren orientalischen Spiegel. Den hatte er von einer wundervollen Reise mit Eleonore mitgebracht. Sie hatten ihn auf einem Markt ersteigert und viel Mühe auf sich genommen, um ihn unversehrt nach Hause zu schaffen.

 

Richard wollte gerade den Blick abwenden, als er im Glas des Spiegels etwas entdeckte, was seine ganze Aufmerksamkeit erweckte. Da war etwas, gegenüber auf der stilvollen Kommode. Er drehte seinen Kopf zur anderen Seite und verharrte fasziniert. Niemals hatte er einen Hut besessen, aber dort lag einer. Er war braun und während wie aus weiter Ferne die Stimmen dreier seltsamer Wesen erklangen, fiel Richard in einen langen, tiefen Schlaf.

 

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Karl´s Welt der Beine

 

 

 

Da war sie wieder; die kurze Lederhose mit den leicht behaarten Männerbeinen! Karl blickte auf die große alte Uhr über dem Schaufenster des Schmuckgeschäftes gegenüber. Punkt viertel vor neun; nach diesen Beinen konnte man die Uhr stellen, von Montags bis Freitags. Nur Samstags, da erschienen sie erst gegen zehn; und am Sonntag, nein da war kein Verlass auf sie; da waren sie nur sporadisch zu sehen.

 

Jetzt konnte es höchstens noch zehn Minuten dauern, dann würden wieder diese wohlgeformten, dünn mit Strümpfen überzogenen Beine an ihm vorbei flanieren, auf die er sich jeden Morgen erneut freute, ein herrlicher Anblick! Nur diese Leine daneben, mit dem schleifenbewehrten Winzling von Hund daran, der ihn jedes Mal hektisch ankläffte und die nadelspitzen Zähnchen fletschte, zerstörte jegliche erfreuliche Wahrnehmung.

 

Oh nein, da kam sie wieder, die alte Dame im Rollstuhl; rein zeitlich betrachtet war sie vollkommen unberechenbar. Etwa zwei bis drei Mal pro Woche kam sie vorbei, hielt jedes Mal bei ihm an und warf ihm einen Euro in die alte, karierte Mütze, die Karl vor sich auf dem Boden der Fußgängerzone platziert hatte. Er mochte keine Rollstühle, denn er hatte sich abgewöhnt den Menschen in die meistens gestressten und oft nichts sagenden Gesichter zu sehen. Er zog es vor, den Passanten auf die Beine zu sehen und niemals höher; das ersparte ihm die Scham und ließ ihm die Freiheit, den oberen Teil der vorbeiziehenden Personen frei nach seiner Fantasie zu erahnen. Er kannte sie alle, die Bänker und Yuppies, die Spießbürger und Arbeitslosen, die Sehnsüchtigen und Verlorenen, die Ziellosen und Suchenden; er konnte sie leicht an ihren unteren Gliedmassen und deren Bekleidung identifizieren.

 

Er verdrängte die Gleichgültigkeit vieler genauso wie manchen schmähenden oder verächtlichen Blick des ein oder anderen. Früher, ja früher da hatte er seinen Mitmenschen gern in die Gesichter geschaut, immer auf der Suche nach Inhalt. Aber nachdem seine Frau plötzlich verstorben war, sein Sohn drogensüchtig wurde und er selbst seinen Job verloren hatte, da war ihm alle Kraft entwichen und er hatte für eine lange Zeit all seinen Kummer regelmäßig in Alkohol ertränkt.Schliesslich jedoch hatte eine Art von oberflächlicher Unberührbarkeit von ihm Besitz ergriffen, die ihn zum Überleben zwang.

 

Er war immer ein Kämpfer gewesen, aber die Gesellschaft hatte ihn auf das Wesentliche, Urtriebhafte reduziert.

Nur manchmal, nachts im Obdachlosenasyl, da wagte er noch zu träumen; von irgendeinem diffusen besseren Leben, bereichert von sinnvollen Aufgaben und kleinen bescheidenen Vergnügungen, die früher so selbstverständlich schienen, das er sie kaum wahrgenommen hatte.

 

Eine Münze fiel in seine Kappe; vor ihm stand ein Rollstuhl und diese alte Dame warf ihm wie immer diesen unbeschreiblichen Blick zu; voller Wohlwollen und sichtbaren Mitgefühl. Karl war nicht in der Lage, ihren Augen auszuweichen und jedes Mal ergriff ihn eine starke Regung, die zu erfassen er nicht im Stande war. Sie blickte nicht auf ihn herab, aber sie traf ihn und erzeugte bei ihm so etwas wie ein Gefühl von Resthoffnung.

War es nicht pervers - dieser Mensch, an sein Vehikel gefesselt und offensichtlich schwer behindert, gab ihm Almosen. Es beschämte ihn zutiefst; damals, in seinem vergangenen Leben, da hätte er dieser Frau wohl bei der erstbesten Gelegenheit seine Hilfe angeboten.

 

Sie lächelte ihn vielsagend an und setzte sich wieder in Bewegung. Karl sah ihr noch eine Weile versonnen nach, bis er schließlich wieder zu seinem gewohnten Rhythmus fand.

Aha, die Schlabberhose war im Anmarsch; eins von diesen modischen Beinkleidern, bei denen die meist jugendlichen Träger das Gesäß anscheinend in Höhe der Kniekehlen verlegt hatten! Dieser junge Mann warf ihm regelmäßig begleitet von den Worten >> hier Alter, zieh´s dir rein << eine selbstgedrehte Zigarette in die Kappe. Furchtbares Kraut; aber immerhin!

So verging dieser Tag wie viele andere und gegen Abend zählte Karl seine Einnahmen. Vierzehn Euro fünfzig - ein durchschnittliches Ergebnis.-

Er sammelte seine paar Habseligkeiten ein, erhob sich mit schmerzenden Knien und machte sich auf den Weg zum Imbiss an der Ecke. Heute war Freitag; da erlaubte er sich immer eine doppelte Currywurst mit Pommes-Frites; für seine Verhältnisse ein wahrer Luxus!

 

Er suchte sich einen Sitzplatz in der Ecke, mit dem Rücken zur Wand. Während er gierig die Gabel zum Mund führte, fielen ihm diese Beine vorne am Verkaufsthresen auf. >> Die kenne ich doch?! << , dachte er versonnen. >> Natürlich, immer Dienstags, so gegen zwölf Uhr auf dem Weg zur Bank gegenüber!<<  

 

- ENDE -